Kleine Geschichte des deutschen Radsports
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Teil 1: 1868 - 1918
Die ersten Radrennen waren verboten, sie mussten meist heimlich durchgeführt werden, am Besten frühmorgens oder spätabends, auf einsamen Areal in Parks oder auf unbelebten Plätzen. München hatte da schon einiges zu bieten. Hier fand auch eines der ersten Rennen überhaupt statt, ein Draisinen-Rennen mit 26 Laufgeräten am 20. April 1829.
Am 31. Mai 1868 gewinnt James Moore in Saint-Cloud, Paris das erste Bahnrennen der Welt, einen Sprint über 1200 Meter. Am 1. November 1868 wird das erste dokumentierte Damenrennen Europas in Bordeaux ausgetragen und Moore entscheidet im darauffolgenden Jahr auch die erste Städtefahrt mit internationaler Besetzung, Paris-Rouen über eine Distanz von 123 km, mit einem Schnitt von 11,4 km/h in 10 Stunden und 45 Minuten, für sich. Unter deren 198 Teilnehmern befinden sich auch fünf Frauen, mit dabei die damalige Miss Amerika, die 29. wurde (nach Les Woodland war Miss America nur das Pseudonym einer Engländerin). Sowohl Michaulinen als auch Drei- und Vierräder treten an.
In Deutschland wird der erste Radsportverein der Welt in Altona gegründet: Die rasante Entwicklung des Radsports war nicht mehr zu stoppen.
Der neue Sport wurde schnell beliebt, das Publikumsinteresse wuchs stetig und es wurde notwendig für die Rennen bessere Austragungsstätten zu finden. In Deutschland begann diese Entwicklung am 26. Juni 1880 in München auf der Schlittschuh- und Eisbahn mit einem Rennen über 4 Kilometer, das 11:21 Minuten dauerte und das ein Herr Schäfer für sich entschied, geehrt wurde er mit einer Goldmedaille, einem Goldpokal und 300 Mark.
Der Berufsradsport nahm damit seinen Anfang. Ein Jahr später fanden sich bereits ausländische Mitkonkurrenten ein, darunter der Sieger Thomas H. S. Walker, der die Entwicklung des Radsports in Deutschland wesentlich mit voran trieb. Als Vertreter eines britischen Fahrradherstellers mit Filiale in Berlin, reiste er viel umher, nahm an Rennen teil und brachte die Zeitung "das Velociped" auf den Markt. Mit Erfolg, denn 1883 gründete sich auf seine Initiative hin der "Erste Berliner Bicycle Club" dem bald eine Reihe weiterer Clubs in ganz Deutschland folgten. Viele Rennsiege halfen ihm erfreulicherweise das Produkt der Firma bestens zu vermarkten. Er verfasste zudem "Das erste deutsche Trainingsbuch" und bereits 1882 gründete sich auf seine Initiative hin in München der "Deutsche Velocipedisten-Bund".
In den Jahren von 1870 bis 1900 boomte der Turn- und Sportgedanke im bürgerlichen Deutschland, es kam zu sehr vielen Vereinsgründungen, vor allem von Turn- und Radvereinen. Zwei Strömungen entwickelten sich parallel: Wettkämpfe, Rekordjagden und bezahlter Leistungssport wurden die Sache der bürgerlichen Vereine, wohingegen die sich wenig später bildenden Arbeitervereine ein anderes Sportverständnis hatten. Das gemeinschaftliche Leben stand im Vordergrund, ganz abgesehen davon, dass ihren Mitgliedern weit weniger finanzielle Mittel zur Verfügung standen für Freizeitaktivitäten oder teures Sportgerät und dass der stark ausgeprägten Standesdünkel der damaligen Zeit ein Miteinander verhinderte.
Schnell kam es innerhalb der Organisation zwischen dem Norden und dem Süden zu heftigsten Auseinandersetzungen, woraufhin sich noch im gleichen Jahr der "Norddeutsche Velocipedisten-Bund" gründete, und da die Rheinländer dem in nichts nachstehen wollten, dauerte es nur kurze Zeit bis der "Rheinische Velocipedisten-Bund" sich meldete (einen "Deutsch und Deutsch-Österreichischen Velocipedisten-Bund" gab es zwischenzeitlich auch noch).
Immerhin fanden sich alle 1884 zu einem "Deutschen Velocipedisten Congress" ein, konnten sich einigen und gründeten am 17. August 1884 in Leipzig den Deutschen Radfahrer-Bund (DRB), den man als Vorläufer des heutigen Bund Deutscher Radfahrer ansehen kann.
Das Niederrad löste das Velociped in den achtziger Jahren ab, der Prototyp des heutigen Fahrrades eroberte die Straßen. Das Publikumsinteresse am Radfahren und am Radsport wuchs schnell, die Mitgliederzahlen der Vereine ebenfalls und überall in Deutschland entstanden Bahnen, bereits 1885 wurden über 30 Pisten gezählt. Eigentlich Grund zur Freude und Harmonie, aber nein, wieder eskalierten Meinungsverschiedenheiten und erneut spalteten sich Verbände ab, in Süddeutschland die Allgemeine Radfahrer-Union (ARU), in Leipzig der Sächsische Radfahrer Bund.
1886 wurde eine erste nationale Meisterschaft um den Kaiserpreis ausgetragen, ein Wanderpokal, den Wilhelm der I. gestiftet hatte. 1989 ging der Kampf bereits um vier deutsche Meistertitel: 10 000 m Hochradfahren, 7 500 m Niederradfahren, 5 000 m Dreiradfahrern und 5 000 m Doppelsitzer-Dreiradfahren.
Ein weiterer Konflikt brach in den 80er Jahren vehement auf. Die Fahrer sagten sich immer häufiger, warum sollten sie nicht profitieren von dem Erfolg der Bahnen, der vor allem ihnen zu verdanken war und sie erhoben Anspruch auf Teile der Einnahmen. Diese Fahrer nannte man "Geldpreisfahrer", wobei die erhaltenen Summen damals nicht für den Lebensunterhalt ausreichten. Laut den Statuten des am 1. 12. 1882 gegründeten Norddeutschen Velocipedisten-Bundes war ein Geldpreisfahrer ein Fahrer, der "öffentlich" als Künstler auftrat oder der "wissentlich mit Leuten conkurriert, welche Geldpreise gewonnen, oder um solche concurriert haben". Somit waren diese Fahrer und solche die ohne Erlaubnis ihres Bundes gegen Professionals antraten, als Profis anzusehen.
Der Deutsche Radfahrer-Bund verschärfte die Bestimmungen. Bereits wer gegen Bezahlung Schrittmacherdienste leistete, einen gewonnenen Ehrenpreis veräußerte, Reisespesen, Reifen oder anderes Material empfangen hatte, wurde zum Berufsfahrer deklariert oder besser deklassiert. Für den Verband zählte allein der Amateurgedanke, das Berufsfahrertum war von Übel.
Einfluss hatte auch die 1884 in London gegründete International Cyclists Association (ICA), der erste internationale Dachverband, dem im selben Jahr der DRB beitrat und der das Amateurprinzip ebenfalls hoch hielt. Der Radsport gehörte zu den Sportarten, die am frühesten und mit am stärksten zerrissen wurden zwischen den Polen Amateurismus, vertreten durch die Olympische Idee eines Pierre de Coubertin und Profitum, Ausdruck der kapitalistischen Gesetzlichkeiten. Denn schnell hatte man erkannt, dass dieser Sport vor dem Hintergrund des immensen Publikumsinteresses ein interessantes Berufs- und Vermarktungsfeld darstellte. So besteht der Radsport bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts aus zwei Lagern, den Amateuren und den Profis, die erst 1996 offiziell vereint wurden auch im Einklang mit der gesamtsportpolitischen Entwicklung, die immer auch und in besonderem Maße den olympischen Sport betraf. Auf internationaler Ebene hatte die UCI nach innen und nach außen, vor allem mit dem IOC, gut hundert Jahre lang diese oft sehr harten Kämpfe auszufechten.
Am 16. Mai 1886 veranstaltete der Münchner Bicycle-Club zur Eröffnung seiner neuen Radrennbahn am Schyrenplatz das mit 1000 Mark dotierte erste Berufsfahrerrennen Deutschlands. Dieses Rennen lockte bereits mit internationaler Beteiligung das Publikum, drei Berufsfahrer aus Frankreich und England fuhren mit. Berufsfahrer wurden von den Veranstaltern bald lieber verpflichtet, da deren Leistungen besser waren als die der Amateure und somit das Publikumsinteresse steigerten.
Fachzeitschriften etablierten sich und berichteten über Rennerfolge und Trainingsweisen, so wurde z.B. empfohlen: "Man beginnt das Trainieren, um den Körper innerlich zu reinigen, gewöhnlich mit der Anwendung eines gelinden Abführmittels. Die passendste Zeit des Aufstehens ist im Sommer um sieben Uhr, im Winter etwas später, hierauf wird nach einem kurzem Spaziergang ein Bad genommen, womöglich ein Schwimbad in einem fließenden Wasser. Nach dem Bade reibt man den Körper mit einem rauhen Handtuch tüchtig ab." (A. Hochmuth)
Der Radrennsport wurde zum lukrativen Geschäft und war bald nicht mehr zu trennen von der Fahrradindustrie, die Anfang der 90er Jahre bis zur Jahrhundertwende einen großen Aufschwung erlebte. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts warben die Fahrer mit den Namenszügen von Firmen auf ihren Trikots.
Der Aufschwung des Straßenradsports begann in Europa 1891 mit den Fernfahrten Bordeaux-Paris über 572 km und Paris-Brest-Paris über 1200 km, die in einem Stück zu fahren waren. Neben dem Box- und dem Pferdesport avancierte der Radsport damit zur beliebtesten Sportart. Das Rennen Wien-Berlin über 582.5 km 1893, großzügig gesponsert von der Industrie, gilt als das Ereignis, das den Durchbruch des Fahrrads in der deutschen Öffentlichkeit bewirkt haben soll. Josef Fischer aus München brauchte 31 Stunden für diese Distanz, er war damit mehr als doppelt so schnell wie der bisherige Rekordhalter auf dieser Strecke: 71 Stunden und 35 Minuten benötigte dafür 1892 ein österreichischer Offizier mit dem Pferd.
Die Zeiten waren politisch gesehen äußerst spannungsgeladen. Die Stimmungslage unter den Nationen war nicht selten gereizt und so kam es 1910 anlässlich der Weltmeisterschaft in Brüssel zu einem Eklat zwischen deutschen Verbänden und der UCI, als der klar vorne liegende Hannoveraner Henri Mayer nur als Zweiter eines Sprint-Zwischenlaufs klassifiziert wurde. Die Vertreter des Verbandes Deutscher Radrennbahnen nahmen alle deutschen Fahrer aus dem Rennen und traten von der Weltmeisterschaft zurück. Die anderen deutschen Verbände erklärten sich, obwohl untereinander zerstritten, solidarisch und traten gemeinsam aus der UCI aus, als diese das Urteil des Zielrichters Carozzi bestätigte. Auch eine Reihe namhafter ausländischer Fahrer akzeptierten das offizielle Endklassement nicht. In der Folge kam es zu weiteren Disqualifikationen deutscher und in Deutschland startenden ausländischen Fahren, so dass auch der Schweizer und der Polnische Radfahrer-Bund ihren Austritt aus der UCI erklärten. Diese Turbulenzen hatten sicherlich ihre Ursachen in den Schwächen und den Auslegungsmöglichkeiten der bestehenden Wettkampfregeln aber vor allem spiegelten sich darin die politischen Gegensätze zwischen den europäischen Großmächten wieder.
Die deutschen Verbände gaben nicht klein bei und organisierten in Berlin eine sog. Oberweltmeisterschaft der Steher, die der Holländer Dickentmann gewann. 1911 wurde in Dresden erneut eine inoffizielle WM ausgetragen. Der große internationale Zuspruch hatte zur Folge, dass sich die zerstrittenen Parteien einigten und sich eine deutsche Mehrheit fand für den Wiedereintritt in das internationale Renngeschehen. 1912 versöhnte man sich mit der UCI, woraufhin die Deutschen 1913 mit der Austragung der nächsten Weltmeisterschaft belohnt wurden, bei welcher der Profi Walter Rütt, Sieger von über 1000 Rennen, seinen einzigen WM-Titel im Sprint erringen konnte.
Auf Initiative der Allgemeinen Radfahrer-Union wurde 1913 auf einem Rundkurs in Berlin die erste Deutsche Meisterschaft der Berufsstraßenfahrer ausgetragen, Sieger wurde Ernst Franz vor Erich Aberger und Fritz Bauer. Selbst das Jahr 1915 sah noch ein Rennen, ein Langstreckenrennen über 134 km, das Karl Wittig gewann.